„Für jedes Paar gebundener Füße ein Eimer voller Tränen“
Dieses chinesische Sprichwort bezieht sich auf die Prozedur des Füßebindens – die Verwirklichung eines Schönheitsideals, dem sich Frauen in China ein Jahrtausend lang unterwarfen. Denn wer die perfekte chinesische Ehefrau sein wollte, brauchte winzig kleine Füße. Als Ideal galt eine Fußlänge von 10-13 cm.
Die Anfänge dieses Schönheitsideals gehen auf die Tang- Dynastie im 10. Jahrhundert zurück. Zu dieser Zeit soll sich die Lieblingskonkubine des Herrschers Li Yu ihre Füße zum Tanz eingebunden haben, um sie halbmondförmig erscheinen zu lassen. Während zu Beginn die Füße nur sanft und temporär eingebunden wurden, entwickelte sich in kurzer Zeit eine Technik, die die Füße radikal einschnürte.
Die Prozedur des Füßebindens
Um Frauenfüße dem Schönheitsideal des kleinen Fußes anzupassen, wurden Mädchen im Alter zwischen fünf und acht Jahren die vier kleineren Zehen gebrochen und auf die Unterseite des Fußes gebunden. Zusätzlich wurde der Fuß von Leinenbändern fest umwickelt, um ihn am Wachstum zu hindern. Alle zwei Tage wurden die Bänder fester gezogen, sodass die mittleren Fußknochen brachen und die Blutzufuhr unterbrochen wurde. Um das Absterben der Füße zu gewährleisten wurden in manchen Fällen Porzellanscherben und Dreck hinzugefügt, die Infektionen fördern sollten. Durchgeführt wurde der Prozess von den Müttern und Großmüttern. Der so veränderte Fuß wurde mit einem speziell angefertigten Schuh geschmückt. Um möglichen Gerüchen von dem abgestorbenen Körperteil entgegenzuwirken, wurden die Schuhe oft selbst im Ehebett anbehalten.
Die Stellung der Frau in der Gesellschaft
Das Ergebnis waren ausgewachsene Frauen, die sich nur mit winzig kleinen Trippelschritten fortbewegen konnten und ihr Leben lang unter Schmerzen litten. Lange Strecken zu Fuß zurückzulegen wurde demnach unmöglich. So wurde die Frau durch ihre bewusst herbeigeführte Behinderung ans Haus gebunden und erfüllte somit auch das Idealbild des Mannes von ihr als tugendhafte Gattin, die im Gegensatz zum starken Krieger keusch über das Haus wachte. Zudem galten die extrem kleinen sichelförmigen Füße der Frau als sehr erotisch. Durch die mangelnde Bewegung entwickelten viele Frauen einen fülligen Körperbau, der zu dieser Zeit ebenfalls als attraktiv galt.
Die Ehefrau war somit eine Gefangene im eigenen Zuhause welches sie nur auf einem Stock gestützt oder in einer Sänfte verlassen konnte. So physisch unter Kontrolle gehalten, war ihre Abhängigkeit vom Mann allumfassend.
Diese Art der Verstümmelung breitete sich, mit Ausnahme einiger kulturellen Gruppen, in nahezu allen höheren gesellschaftlichen Schichten Chinas aus. Durch den Grad der eingeschnürten Füße zeigte sich der Wohlstand der Familie. Das lag daran, dass Frauen, die ihren Familien auf dem Feld, oder bei anderen als nieder angesehene Arbeiten helfen mussten, auf gesunde Füße angewiesen waren. Andererseits wurde erhofft, den Töchtern durch das Einbinden der Füße eine bessere Position im Leben zu ermöglichen. Erst durch die sogenannten Lotusfüße wurde eine Frau begehrenswert und heiratsfähig. Damit wurde die soziale und ökonomische Sicherung der Familie gewährleistet, sowie ein eventueller Aufstieg in höhere gesellschaftliche Kreise ermöglicht.
Der Kampf gegen eine Tradition
Die Tradition der Lotusfüße wurde von den Frauen Chinas Jahrhunderte lang als gesellschaftliche Norm angesehen. Jedes junge Mädchen ergab sich demselben Schicksal und den schrecklichen Schmerzen und gab sie willentlich an ihre Töchter und Enkeltöchter weiter. In ihrem Bestreben nach Schönheit und dem Willen, dem zukünftigen Ehemann zu gefallen, wurde das Fußbinden nur selten hinterfragt.
Pearl S. Buck schreibt in ihrem Roman Ostwind Westwind (1927) über die Sicht der Frau über ihre gebundenen Füße:
Als der Gatte von seiner traditionell erzogenen Frau verlangt, dass sie ihre Lotusfüße aufbindet, reagiert die Erzählerin des Buches entsetzt: „Ich jedoch zog die Füße rasch unter den Sessel. Ich war entsetzt über seine Worte. Nicht schön? Immer war ich auf meine winzigen Füße stolz gewesen! Während meiner ganzen Kindheit hatte meine Mutter persönlich das Aufweichen im heißen Wasser und das jeden Tag fester werdende Wickeln des Verbandes beaufsichtigt, und wenn ich vor Schmerz weinte, erinnerte sie mich daran, dass eines Tages mein Gatte die Schönheit dieser Füße preisen werde.“
Diese Tradition hielt an bis in das 20. Jahrhundert. Erst dann positionierten sich die ersten Frauen gegen die Verstümmelung für das Schönheitsideal. Die Frauenrechtlerin Qui Jin forderte alle Frauen auf, sich der Tradition nicht länger zu unterwerfen. Sie appellierte an sie, die Abhängigkeit von ihren Ehemännern zu brechen und sich selbst im Berufsleben und in der Gesellschaft zu integrieren. Es bildeten sich Familienvereine, die sich gegenseitig versprachen weder ihren Töchtern die Füße zu binden, noch ihre Söhne an Frauen mit gebundenen Füßen zu verheiraten. Lotusfüße wurden Schritt für Schritt als ein Symbol des traditionellen Chinas abgelehnt, gebundene Füße wurden teilweise wieder aufgebrochen. Auch im Rahmen der zunehmenden Industrialisierung wurden Frauen vermehrt als Arbeitskräfte gebraucht, wofür die gebundenen Füße hinderlich waren.
Offiziell wurde das Fußbinden 1911 von der Republik China verboten, tatsächlich wurde es jedoch noch bis in die 1930er Jahre praktiziert. Mit der Gründung der Volksrepublik China 1949 endete die tausendjährige Tradition der Lotusfüße endgültig.
TEXT Maria Kraus
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